Der Mai war für unser Team ein sehr lehrreicher und aufwühlender Monat.

Er begann mit täglichen Unterrichtseinheiten in der staatlichen Schule von Anaiyeri für Kinder im Alter von 8 bis 16 Jahren. Bis zum 10. Mai haben wir mit den Kindern teils spielerisch die folgenden Gesundheitsthemen besprochen: Ernährung, Hygiene, Alkohol und Rauchen, Schwangerschaft, Zyklus und Menstruation, durch Insekten und verunreinigtes Trinkwasser übertragbare Krankheiten sowie Erste Hilfe. Zum Abschluss dieses Sommercamps gab es ein großes Fest, zu dem wir alle eingeladen wurden und einen öffentlichen Dank vor dem Publikum erhielten.

Gleichzeitig fanden bis Mitte Mai wie auch schon im April Womens-Health-Camps mit anschließenden Dorfbesuchen und Checkups für Schwangere und Mütter mit Säuglingen statt. Bei diesen Health-Camps haben wir Frauen aus Selbsthilfegruppen in verschiedenen umliegenden Dörfern über unser “Maternity Health Centre” und unsere Arbeitsweise informiert und sie in Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Hygiene und Ernährung geschult.

Erfreulicherweise erhielten wir im Mai das von “Ein Herz für Kinder” gespendete, nagelneue CTG, welches nun unseren älteren CTG-Geräten aus Deutschland den Einsatz streitig machen wird. Mithilfe des CTGs können wir Herztöne und Wehen aufzeichnen und somit frühzeitig erkennen, wie es dem Kind im Mutterleib geht. Dank des integrierten Akkus, der einige Stunden hält, brauchen wir nun nicht mehr bei jedem CTG den Generator einschalten. Dieser benötigt Diesel und verursacht zusätzliche Kosten. Die Geräte aus Deutschland können durch die unregelmäßige Stromspannung in Indien beschädigt werden. somit haben wir nicht nur ein modernes Gerät hinzugewonnen, sondern können auch noch Kosten einsparen. Vielen Dank dafür an “Ein Herz für Kinder”.

Am 14.5. Ist die kleine Jasmin mit einer in der Schwangerschaft nicht erkannten Meningocele bei uns im MHC geboren worden. Eine Meningocele ist eine Form der Spina Bifida - eine Neuralrohrfehlbildung. Bei dem Mädchen haben sich Rückenmarkshäute durch den Wirbelspalt in der Lendenwirbelsäule hervorgehoben, so dass von außen eine etwa daumenbreite Zyste sichtbar war. Um zu verstehen was wir durch diese traurige Problematik erlebt haben und warum es zu ethischen Diskursen kam, beschreibe ich mögliche Folgen, die mit dieser Erkrankung einhergehen können. Viele Menschen mit dieser Fehlbildung leiden unter unterschiedlich stark ausgeprägten Lähmungen und Sensibilitätsstörungen, die von der Inkontinenz über eine völlige Blasenlähmung, wodurch ein Katheterisieren notwendig wird, bis hin zu einer Querschnittslähmung oder gar zu Hirnschädigungen aufgrund der Entstehung eines Hydrozephalus (Wasserkopf) reichen können. Häufig sind Fehlstellungen und Muskelungleichgewichte im Bereich der Wirbelsäule, Hüfte oder in den Beinen die Folge. Die Kinder benötigen mehrere Operationen und Rehabilitationsmaßnahmen im orthopädischen und urologischen Bereich. In Deutschland ist diese Problematik aufgrund des gut ausgebildeten Gesundheits- und Sozialsystems gut händelbar. In Indien jedoch gibt es wenige Unterstützungsmöglichkeiten wie integrierte Kindergärten, Schulen und Arbeitsstätten für Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen. Die staatlichen Krankenhäuser sind nicht besonders gut und private Häuser verlangen sehr hohe Summen für Operationen und Krankenhausaufenthalte, was besonders für die armen Menschen, die wir betreuen, ein großes finanzielles Problem darstellt.

Kurz nach der Geburt von Jasmin haben wir sie und ihre Mutter, ihren Vater, die Oma und ihre Tante zuerst nach Pondicherry in ein staatliches Krankenhaus gebracht. Da ihr dort nicht geholfen werden konnte, sind wir weiter in ein privates Krankenhaus gefahren. Dort hätte man sie innerhalb kurzer Zeit operieren können, jedoch konnte das Personal die entstehenden Kosten nicht genau im voraus kalkulieren. Wir sahen uns also gezwungen, weiterhin ein staatliches Krankenhaus zu finden, da die Kosten für die Gesundheitsversorgung in diesem durch den indischen Staat übernommen wird. Wir fuhren auf Anraten einer Ärztin weiter nach Chennai, wo Jasmin in einem Krankenhaus aufgenommen und uns versichert wurde, dass der operative Verschluss der Meningocele am nächsten Tag erfolgen würde.

Wir erfuhren jedoch, dass sich die Familie aus persönlichen Gründen dagegen entschieden hatte und mit dem Kind in ihr Dorf zurückkehren würde. Diese Entscheidung war für uns schwer zu akzeptieren. Durch regelmäßige Hausbesuche unterstützten wir die Familie auf ihrem schwierigen Weg. Wir brachten der Mutter eine Milchpumpe und halfen ihr beim Anlegen von Jasmin, da die Kleine viel Gewicht verloren hatte. Außerdem hatte sie bereits Fieber woraufhin wir der Familie die Reinigung der bereits offenen Meningocele erklärten, da dies eine hohe Infektionsquelle darstellte. Das Fieber sank und wir konnten die Familie überzeugen, noch einmal mit uns nach Pondicherry zu dem Neurologen zu fahren, der bereits unsere Hebammen Verena und Katharina nach ihrem Unfall behandelt hatte. Dr. Annie hatte den Termin für die Familie ausgemacht. Wir wurden dort an einen Neurochirurgen weitergeleitet, der die Familie ein weiteres Mal über die möglichen Folgen der Erkrankung informierte. Der Arzt empfahl uns, nach Vellore zu fahren und das Kind dort operieren zu lassen. Dieses Krankenhaus hat einen besonders guten Ruf. Obwohl die Familie sich erst sträubte, fuhren wir zwei Tage später nach Vellore. Da wiederum keiner der Ärzte versichern konnte, dass Jasmin ohne Beeinträchtigungen aufwachsen würde, entschied sich die Familie entgültig dafür, keine weiteren medizinischen Maßnahmen durchführen zu lassen. Der Zustand von Jasmin verschlechterte sich und sie nahm weiterhin an Gewicht ab. Am 2. Juni ist sie zuhause gestorben.

Die Entscheidung der Familie und das damit besiegelte Schicksal des Mädchens gingen uns sehr nahe und so wichtig deren Betreuung auch war, sie stellte für uns eine große Herausforderung dar. Es gab Zeiten, in denen wir die Kleine am liebsten nach Deutschland gebracht hätten um ihr anders helfen zu können. Wir mussten lernen zu akzeptieren, dass wir hier in Indien sind, einem fremden Land, in dem die kulturellen, religiösen und sozialen Umstände einen wesentlichen Unterschied zu den deutschen darstellen. Aufgrund der unzureichenden Rehablilitations- und Hilfemaßnahmen und den unterschiedlichen Glaubensrichtungen vor allem auf dem Lande, wäre das Leben der Familie durch die möglichen Folgen der Erkrankung mit enormen Schwierigkeiten verbunden gewesen.

Die kleine Jasmin wird uns lange in Erinnerung bleiben.

Meine Mutter kam mich am 26. Mai besuchen und da meine Zeit nach 4 Monaten im MHC zuende war, sind wir gemeinsam am 30. Mai weitergereist. Ich habe viele Erfahrungen gesammelt und konnte vieles über die Lebensgewohnheiten und –umstände in Indien lernen. Ich danke Pirappu und PMD sehr für die Möglichkeit, im Geburtshilfeprojekt arbeiten zu können und denke gerne an die Zeit und die vielen lieben Menschen, die ich kennenlernen durfte zurück.

Stephanie Röhnisch für das Indien-Team